Die ganze Welt
(für einen Bildband „Köpfe“ von Lupus = Hartmut Wolf, 2008)
Vom Vorsatz zum Plan zur Tat – das sind bei Lupus kurze Wege. Das Motiv ist eh schon stark und unerschütterlich vorhanden. Es ruht in ihm wie ein ewiger Hunger, der Welt fressen will. Dieser Wolf=Lupus ist kein Bedenkenträger. Vorbereitet auf Eventualitäten, weil unentwegt die Wirklichkeit belauernd, packt er die Gelegenheiten. Das ist sein tägliches Kairos. Darum auch wird hier so eruptiv produziert. Das ist kein besinnungsloser Schaffensrausch, das ist wohlvorbereitetes Handeln aus gegebenen Anlässen. Ein Blick auf die Wirtschaftsseite der FAZ ist Anlass genug. Warum und wie fallen oder steigen die Kupferpreise? Und warum versammeln sich die notorischen Staatschefs, „The Rettungskräfte“, Freundschaft und Handlungsmächtigkeit heuchelnd, so optimistisch vor der Kamera? Er will die Welt, und zwar die ganze, erfassen! Darum auch sind Horizonte in seinen Zeichnungen nicht brav waagerecht und randparallel ins Bild gesetzt, sondern so gekrümmt, wie sie dem erscheinen, der mal eben ein paar Kilometer in Richtung Weltraum aufsteigt.
Lupus ist ein Macher. Er ist ins Gelingen verliebt. Er hasst das bloße Geschwätz. Einfache Lösungen zieht er vor, vor allem, wenn ihnen etwas Genialisches anhaftet. Sein bester Freund ist der Zufall. Er schaut dem Welttheater hinter die Kulisse, um zu erfahren, wie das Stück angerührt ist. Er weiß, dass die Realität nicht nur hart und gegenständlich, sondern zu großen Teilen inszeniert, ja oft fiktiv ist. Sie ist ihm auch ein unübersichtliches Knäuel von Interessenssträngen. Im „tiefernsten“ Umgang mit der Welt, der er sich mit Beharrlichkeit und Demut nähert, greift Lupus dann zum Stilmittel der Groteske. Wenn die Ebenen verspringen dürfen, ist er in seinem Element. Sein Blick wird ruhig und genau. Kein milchiger oder gerasterter Vorhang soll ihn trüben; weg mit den Ideologien und Vorwegerklärungen!
Köpfe
Nach Lupus sind Kinderköpfe, gefolgt von den weiblichen, am schwierigsten, einfacher hingegen Köpfe älterer Männer zu gestalten, jedenfalls dann, wenn wegnehmend, also schnitzend, schabend, kratzend mit Stichel, Messer, Griffel gearbeitet wird, wenn sich mit der Hand des Skulptors das Leben gewissermaßen von außen in die Oberfläche gräbt. Die optimale Technik für die Herstellung weiblicher Köpfe wird Lupus noch entwickeln. Sie muss eine von innen her arbeitenden Kraft gestatten. Warten wir’s ab.
Lupus schlägt ungern auf lebendige Köpfe ein. Das ist nur seine Ultima ratio in hoher Not. Lieber ist ihm das Sublime der Kunst. Oder sollten wir es göttlich nennen, wie er aus dem Allerweltsmaterial Lehm (Ton ist feiner Lehm) individuelle Köpfe formt? Dieses Material erlaubte einst IHM und gestattet jetzt auch ihm sofortiges Handeln, gestattet ihm gleichsam lebensgefährliche Abschweifungen, die hier aber Spiel und Reflexion bleiben. Lupus kennt nämlich die Wahrheit: Erst im Spiel ist der Mensch ganz er selbst und bei sich angekommen. Und im Spiel ist Stil.
Dazu O-Ton Lupus:
Mein Credo ist die „GROTESKE“ als Weltanwendungs- oder Weltaneignungsgebiet im Zusammentreffen gefundener oder erfundener Nicht-Zusammengehörigkeits-Ebenen und ihrer nie enden wollenden Potenz, bisher Unbekanntes, Ungedachtes und Unbelachtes aufzustoßen hinein ins nach vorn Offene oder zurück ins immer schon Angefangene. Die Groteske ist ein verführendes und verführerisches Stilmittel, sozusagen der sichtbare Anteil dessen, was ich tue, obwohl das eigentlich Gemeinte der Ahnungs-Schatten des Sichtbaren ist.
Das sollten wir jetzt noch einmal lesen, es ist schließlich ein Glaubensbekenntnis.
Jetzt weiter:
Einmal hat er eine Büste in Lebensgröße gemacht und diese den anfänglich widerstrebenden nahen Verwandten des porträtierten Hitler-Attentäters Georg Elser auf den Küchtisch gestellt. Bei diesem Ähnlichkeitstest wollte er erfahren, ob z.B. der Bruder den Bruder beanstandungslos wiedererkennt. Als Vorlage hatte ihm ein undeutliches Zeitungsbild zweier Gestapo-Fotos gedient. „Das ist er!“, riefen der Bruder und die Schwägerin mehr erschrocken als erstaunt. Die Erschütterung dieser die Öffentlichkeit und den Kontakt mit Journalisten meidenden Menschen – hier in der Küche war sie zu spüren. Künstlerlohn vom Feinsten! 40 andere nicht minder ähnliche Köpfe – von „ bedeutenden Paaren“ (je Jahrhundert eines), vom Bergedorfer Komponisten Johann Adolph Hasse, von der den alten Zwanzigmarkschein zierenden Elsbeth Tucher usw. – sind Bestandteil seines Oeuvre. Seine Büsten haben immer lebende oder verstorbene Vorbilder, die kleinen Köpfe jedoch nicht. Sie sind frei modelliert, und dadurch lassen sie die Freiheit der Verformung. Jetzt also die kleinen Köpfe, die mit sonstwem Ähnlichkeit haben oder Seelenzustände sind. Du und ich, wir erkennen uns in einigen wieder, auf jeden Fall kennen wir viele dieser Typen.
Zeichnen
Honoré Daumier, sagt Lupus, fertigte oft als Vorlage für seine Porträtzeichnungen kleine Tonplastiken an, als Durchgangsstadium gewissermaßen. Auch Lupus modelliert nicht nur, sondern zeichnet seine Köpfe. Das ist ein Schritt ins Luftigere, Leichtere, in eine Sphäre der unendlichen Möglichkeiten. Hier im Reich der Symbole und Zeichen, wo keine Schwerkraft die Objekte nach unten drückt und die Körper sich nicht gegenseitig verdrängen, jongliert es sich ganz unbeschwert. Die Groteske reichert sich mit zusätzlichen Bedeutungen an, deren Quelle die eindrängende Welt der Sprache – immer schon als vorgedachte auch im Kopf – und die Welt als papierene, darum auch collagierbare, Information ist, wie sie sich täglich im Briefkasten oder in der Literatur einfindet. Die gesprochene Sprache – Quelle ist oft das Radio – kommt hinzu. Sprache und Schrift werden ihm zum Spielmaterial. Da gestattet er sich alles: kalauernde Wortspiele, Verschiebungen, Verbiegungen, Lautassoziationen, Denglisch und Freutsch. Genüsslich setzt er die Lettern in merkwürdiger Typographie dazu, verwebt sie mit den anderen Lineaturen. Spiel, Zufall und strenge Kombinatorik kommen zum Zug.
Der begabte Mensch
Es ist angenehm, einen Menschen wie Lupus zu treffen, ja vielleicht sogar ihn einen Freund nennen zu können, der so selbst-, nicht unbedingt gott-, vertrauend durch die Landschaft wandelt. Das wurde ihm, dem langerwarteten männlichen Thronfolger, schon in die Wiege gelegt. Von so viel bedingungsloser Liebe, wie sie dem kleinen Hartmut zuteil geworden war, können die meisten leider nur träumen. Vom Vater lernte er den unbestechlichen Blick auf das, was Sache ist, lernte das Begreifen und den Begriff. Bloß nicht abheben in Ideologien! Als es Mode wurde, Marx zu lesen, überkam Lupus bei seinen Versuchen, den Ausführungen dieses großen Philosophen und Welterklärers zu folgen, meist ein unbändiges Ruhebedürfnis. Wenn schon im Schwung sozialer Bewegungen mitschwimmen, dann bitte sehr nicht als Gläubiger, Erleuchteter oder Enthusiasmierter, sondern als Praktiker! Lass andere ihre Windmühlen für ein meinetwegen ökologisches Wolkenkuckucksheim basteln. Lupus sieht sich lieber den Apfel, der auf seinen Kopf fällt, genauer an und beschließt, Apfelweinproduzent zu werden; denn es gibt ja Tausende nutzlos heruntergefallener Äpfel im Land. 60 000 Liter, das sind 60 Kubikmeter oder auch 60 Tonnen, hat er mit seinen Mitstreitern produziert, abgezapft, verkorkt und gewinnbringend verkauft, so dass bares Geld in die Kassen der Windmühlenbauer floss und die Don Quichottes ihren materiellen Unterbau bekamen. Nein, so darf ich das eigentlich nicht sagen, denn Lupus will sich nicht damit brüsten. Verzeih mir bitte, aber ich möchte dich doch ein klein wenig auf das von mir errichtete Podest mit der Aufschrift „Hier steht ein Praktiker auf seinen beiden Beinen“ stellen, auch wenn du sofort wieder runterspringst.
Auf seiner Reise nach Island hatte Lupus einmal einen Zwischenstopp in London Stansted in der Grafschaft Essex. Zwölf Stunden Wartezeit standen ihm zur Verfügung, die er nutzte, um die Landschaft zu erkunden. Er marschierte zwei Stunden lang nach Norden, irgendwann später rechtwinklig abbiegend nach Westen und gegen Ende des hellen Tages wieder nach Süden, fühlte sich geborgen in einem Dorf, dessen Kirchturmuhr im 18. Jahrhundert stehen geblieben war, und hatte jetzt noch zwei Stunden Zeit bis zum Abflug. Der Flughafen war aber von hier aus, wie er auf Nachfrage erfuhr, zwölf Kilometer entfernt. Anlass für Unruhe oder Panik? Nicht bei Lupus. Er fand die Abkürzung, eine stillgelegte in die Landschaft eingegrabene Bahnstrecke, marschierte auf diesem im Vergleich zur Straße kürzeren Wege raschen Schrittes geradeaus zum Flughafen, holte seinen Koffer und mischte sich seelenruhig unter die Reisenden nach Reykjavik.
Als kleiner Junge hatte er sich mal mit seinem eisern ersparten Geld in Kassel ein Fahrrad gekauft. Anstatt nun damit geradewegs nach Hause zu fahren, radelte er übern Berg und weiter ins Paradies seiner frühen Kindheit, das Dörfchen Obervorschütz, spielte mit den Dorfkindern und merkte erst, als die Uhr sechsmal schlug, dass er zum regelmäßig um sieben stattfindenden Abendessen nicht mehr rechtzeitig würde erscheinen können. Er sah die sorgenvollen Gesichter seiner Lieben im Geiste vor sich. Er trat in die Pedale. Verschwitzt, verschmutzt, aber nur 15 Minuten zu spät saß er am Tisch, er hatte die Strecke von 30 Kilometern, trotz bergiger Abschnitte, in Bestzeit geschafft. „Wie siehst du denn aus? Wo warst du?“ „Ich war in Obervorschütz.“ Ungläubiges Staunen. Das Kerlchen spinnt doch wohl nicht? – Nein, der spinnt nicht, der schafft es eben immer. Und wenn die Bredouille allzu arg ist, dann lässt er seine Batterie explodieren.
O-Ton Lupus:
Beide Begebenheiten sagen etwas aus über meine Orientierungsfreude hinein in unbekanntes Gebiet und meine Unerschrockenheit, unbekanntes Land, auch im übertragenen Sinn, zu erforschen. Das scheint mir auch in der Kunst zu wirken. Das Unerwartete, Unvorhersehbare ist unvermeidlich und dem entsprechend hochwillkommen, es kommt sowieso, also begrüßen wir es.
Die große Serie
Sein Werk entfaltet sich vor unseren Augen, die Nummerierung hilft, den Entwicklungsgang zu verfolgen. Noch ist es längst nicht abgeschlossen. Auf 10 000 als Minimum hat Lupus sein zeichnerisches Oevre angelegt, und er ist jetzt kurz vor der 2000 angelangt. Einige Entwicklungen lassen sich schon erkennen. Es gibt den Gang vom Einfachen zum Komplexen, von der Einfarbigkeit zur Mehrfarbigkeit, von der Flächigkeit zur Räumlichkeit, von der puristischen Zeichnung zur Collage, aber es gibt auch alle diese Wege wieder zurück. Und es gibt das Springen in den Ebenen. Wir können die Linie beobachten, wie sie sich auf den DIN A4-Blättern von einem Anfangspunkt durch die Fläche arbeitet und auf ihrem Wege Ornamente, Bedeutungen, Abbilder, Gesichter, Figuren produziert oder einfach nur eine tänzerische Pirouette dreht. Mitunter wird durch wenige Striche ein Raum konstruiert, ein Innenraum oder eine Landschaft, eine Versuchsanordnung oder ein Weltenraum oder ein Bild im Bild. Gelegentlich verdichtet sich die Linie durch körperschaffende Schraffur, dann wieder wird die Schraffur selbst zum Abenteuer der suchenden Linie, indem sie zur Arabeske ausartet. Oder die Linie geht über in einen Schriftzug, der einen Begriff transportiert, ein Bonmot, ein Zitat, das sogleich abgewandelt, verkalauert oder durch Austausch von Buchstaben sogar verdeutlicht, aber auch verfremdet oder assoziativ angereichert wird. Der Spur der Linie folgend erfährt man, wie die Blätter in der Zeit entstehen: Irgendwann – nach ein paar Minuten oder auch erst nach zwei drei Stunden – war für den Zeichner das Stück zuende, er notierte Datum und Nummer, setzte sein charakteristisches „Lupus“ drunter, fertig, das nächste bitte. Täglich entsteht mindestens ein Blatt, meist gleich nach dem Frühstück, ehe Lupus sich den anderen Aktivitäten zuwendet, deren halbfertige Produkte ihn schon anblicken und zur Arbeit rufen. Viele der oft spontan ins Bild gesetzten Bedeutungen erwachsen aus frischen Eindrücken, aus den Einfällen von Welt, viele steigen aus dem Lagerraum seines Seelenkellers auf. Oft findet eine Zeitungsmeldung oder eine Postkartenbotschaft als Zitat, als Nachzeichnung oder als aufgeklebtes Objekt auf die begrenzte Fläche von 29,7 mal 21 Zentimetern. Die Zeichnung, dieses grafische Musikstück, endet erst, wenn sie an Geist reich ist. Verworfen wird keine. Jede erhält ihren Vollzugsstrich, die Signatur.
Für Lupus’ Zeichnungen gibt es Referenzen: Da ist der späte Paul Klee mit seinen Engelszeichnungen zu nennen, da denkt man auch an Saul Steinberg. Und vor einem verbeugt sich Lupus ausdrücklich: dem „ ganz Großen“ Charly Wüllner und dessen Bleistift-Kosmos.
Dieses Buch
Aus der Fülle der Zeichnungen sind hier im Buch nur solche mit Köpfen ausgewählt worden, ergänzt durch Fotografien modellierter Köpfe. Diese beeindrucken durch ihren Ernst und ihre Zartheit, die durch die Bezogenheit zweier Köpfe aufeinander noch gesteigert wird. Sie atmen Menschlichkeit und strahlen Würde aus. Dabei sind ihre plastischen Originale spielzeughaft klein. Auch diese aus Ton modellierten und hier fotografisch dokumentierten Köpfe erscheinen in großer Zahl, wie bei den Zeichnungen bleibt die Skala nach oben hin offen. Wie könnte es ein Erschöpfen geben angesichts des Wunders, dass jeder Mensch – und der Kopf mit seinem Gesicht drückt dies am stärksten aus – ein unverwechselbares Individuum ist? Die Welt ist nicht von Menschenmassen bevölkert – das wäre die Auffassung der sogenannten großen Männer mit ihren Weltbeglückungsideologien – , nein, es sind Milliarden Einzelne. Und jeder ist es wert, hervorgehoben zu werden. Die Menschenliebe, die sich hier im Modellieren menschlicher Köpfe ausdrückt, hat nichts mit blauäugiger Idealisierung zu tun, sie ist sich allerdings des Humanen als Möglichkeit und Anlage und Versprechen auch im bösartigsten Monster bewusst.
Cherchez la femme
Mit Streichholzmännchen fing alles an. Diese einfachen Abbilder des Menschen, Kopf und Leib, setzten zunächst erotische Szenen ins Bild. Suchen wir also die Frau! Denn nichts von dem, was in diesem Buch und in seinem bisherigen zeichnerischen und plastischen Werk enthalten ist, keine seiner Klein- und Großplastiken, ja nicht der ganze tätige Kerl ist denkbar ohne die Frau, die er verehrt. Wir sind bloß die Zaungäste. Auch wenn wir das eine oder andere Objekt nach Hause tragen dürfen, weil wir es käuflich erworben haben, bleiben wir doch nur Beobachter eines Geschehens, welches nur unter anderem auch für das Publikum stattfindet und über das noch viel mehr berichtet werden könnte. Aber das kriegen wir später.
Lupus widmet sein gegenwärtiges und künftiges Werk seiner Liebsten Gudrun Baumert.
Hamburg, Dezember 2008