Gotthold Eichkorn

Rede zur Ausstellungseröffnung am 20.11.1996

Ausstellung: Heiner Studt „Dinge. Bosnien-Herzegowina“, 2 Fotografik-Reihen und Offsetmonotypien im Kunstraum Farmsen, Hamburg 20.11.1996 – 31.1.1997

Heiner Studt hat gemalt und hat gezeichnet. Hier in dieser Ausstellung sehen wir Arbeiten der letzten Jahre. Es sind foto-grafische Arbeiten, wie er es selbst anzeigt: Fotografiken und Offsetmonotypien. Ich spreche zu der Bilderserie „Dinge“ von 1994.

Ding, Dinge – im Plural: Wie viele sind das? Im Grenzfall alle. Alles, was ist, nennen wir die Welt oder – aus unserer griechischen Tradition – Universum. Das östliche Denken ist hierin weniger abstrahierend. Der chinesische Ausdruck für alles, was ist, lautet „die zehntausend Dinge“. Die Serie „Dinge“, die wir hier hängen sehen, umfaßt 30 Bilder. (Im Buch sind sie numeriert am unteren Seitenrand.) 10 000 : 30, dieses Verhältnis mag zunächst einen komischen Effekt haben; jedoch das Problem und die Not, die sich darin verbergen und anzeigen, sind lebensernst – lebensernst und alltäglich. Es geht nämlich nicht – und das zeigt ja gerade die Bildserie – um irgendwelche „Dinge an sich“, sondern immer um „Dinge für uns“, und zwar für jede(n) von uns, uns allein – wir aber sind endlich. In mehrfacher Hinsicht: einmal in der Lebenszeit, wir sind sterblich; im Lebensvollzug selbst sind wir begrenzt in der schieren Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit als Menschen; und schließlich begrenzt und festgelegt durch unsere individuelle Eigenart. Über all das könnte man traurig werden. Meist erleben wir das aber gar nicht so. Gerade da, wo es am engsten ist, im Individuellen, schlägt es um. Ich möchte das zeigen und sagen mit einem Bild/Text aus der Serie von Heiner Studt:

Beim Bild mit den „Dingen“ / Werkzeugen Bohrer / Hammer / Flachzange lesen wir „Die Alltäglichkeit ist… eine Welt, deren Ausmaße und Möglichkeiten durch die individuellen Fähigkeiten oder Kräfte des einzelnen kontrollierbar und berechenbar sind“. (Nr. 15) Im Alltäglichen, gemeinsam mit den anderen, erleben wir unsere Besonderheit positiv als Möglichkeit und Lebendigkeit. Das Glück dieser Begrenzung läßt sich jedoch nicht endgültig stabilisieren. Auch die „Dinge“, die solide und handfest scheinen und uns oft genug das Lebensvertrauen aufbauen helfen, können uns das nicht garantieren! Unvermeidlich erleben wir immer wieder unsere Endlichkeit. Unser Leben, unser Kontakt zu den Dingen und unsere Arten des Umgangs mit ihnen – und wir müssen anstelle des „unser“ überall „mein“ einsetzen – kurz: „Mein“ Leben ist eine Auswahl, eine mehrfach begrenzte Auswahl. Ein Bewußtsein davon schwingt mit, wenn der Künstler aus seinem Leben noch einmal eine Auswahl trifft, eine Auswahl aus der Auswahl, und dadurch eine Reflexion darbietet und diese seine Auswahl „Dinge“ nennt, deren Abschlußbild die Frage stellt: „Was ist der Mensch?“.

Nun, welche Dinge werden gezeigt, und wie sind sie dargestellt? Was sagen die „Sätze“ darunter – der unteren Bild-Hälfte – dazu?

Dinge sind, dies ihr wichtigstes Charakteristikum, Einzeldinge: isoliert, kompakt. Meist sehen wir hier solche Einzeldinge; nur wenige Male haben wir mehrere vom selben (Zwiebeln, Backsteine), als ein Paar (Schuhe) oder ein Ineinander in der Art von Gefäß und Inhalt (Blumen in Glasvase z.B.), elementare Verhältnisse also, die sich zeigen lassen.

Dinge sind in Wirklichkeit immer an einem Ort, in einem Raum. Das ist auf Ab-Bildungen nicht selbstverständlich. Manchmal gibt das Bild einen zimmerartigen Raum wieder, manchmal eine neutrale Fläche, manchmal eine grafisch gegebene Einteilung hell-dunkel, Linien, die dadurch entstehen, und von allem auch Übergänge. Es entsteht beim Betrachter die Neigung, sich angesichts dieser ungewissen Räumlichkeit des jeweiligen Dinges umso mehr und umso intensiver zu versichern.

Trotz dieser Einfachheit wird es nie idyllisch, auch nicht, wo es thematisch naheläge, etwa bei dem Schaukelpferd, im Gegenteil: Das angedeutete Zimmer schafft einen so düsteren Eindruck, als hätte jemand die Szene fluchtartig verlassen. Der dabei zitierte Satz spricht einerseits ganz sachlich in Bezug auf das mögliche Schaukeln vom Rhythmus und der Gliederung der Zeit; die ebenfalls erwähnte „individuelle Geschichte des einzelnen“ wird durch die Bildatmosphäre eher zur zwangsweise verlassenen Kindheit. Das heißt: Wir haben hier eine Doppelbotschaft. Einfachheit liegt auch nicht vor im Sinne einer einfachen vor-technischen Welt. Mehrere elektrische Dinge/Geräte sind vorhanden, zivilisatorisch sind wir in der Gegenwart. Via Telefon – zweimal, die Apparate sind nicht identisch – sind wir auf dem laufenden. Der Text dazu spricht vom „Krieg z.B.“. (Nr.17) Der ganze Satz lautet: „Ein Krieg z.B. stört die Alltäglichkeit“.

Ich möchte jedoch nicht vom Krieg reden, sondern vom .Alltäglichen“;

denn er erscheint in der Serie „Dinge“ als auch im Text, aus dem Heiner die Sätze zitiert, lediglich als Grenzfall des Alltäglichen. In den Bildern sind es „Dinge des täglichen Gebrauchs“, wie wir es als Redewendung sagen, und in dem Buch „Dialektik des Konkreten“ von Karel Kosik ist es ein Leitbegriff. Der tschechische Philosoph gehört in den Kontext jener Reformer Ende der 60er, die den Marxismus öffnen wollten, indem sie ihn zusammenbrachten mit phänomenologischen und existentialistischen Motiven. Generell ging es um eine Aufwertung des Subjekts. Vergißt man dabei nicht das Gesellschaftliche, rückt notwendig der Alltag in den Blick. Nicht nur bei Kosik. Um dieselbe Zeit, zu der sein Buch auf Deutsch erschien, und beim selben Verlag und in derselben Reihe, nämlich Suhrkamp/Theorie, erschien von dem französischen Marxisten und Soziologen Henri Lefebrve ein Buch mit dem Titel „Das Alltagsleben in der modernen Welt“. Genauerhin geht es im Kontext „Dinge“ um einen Wandel der Sichtweise, der mehreren philosophischen Schulrichtungen des 20. Jahrhunderts gemeinsam ist und die bei Kosik in Berührung gebracht werden: daß man am Ding den Umgang mit dem Ding betont und herausarbeitet. Am bekanntesten wurde die sogenannte Zeug-Analyse von Martin Heidegger. Das Primäre ist: Wir gehen immer schon in einer bestimmten Weise um, deshalb nimmt er auch ein anderes Wort. Das Ding als isoliertes Einzelding wird uns erst dann bewußt, wenn es im Zusammenhang des Vollzugs fehlt, z.B. wenn wir den Hammer verlegen.

„Die Analyse der Alltäglichkeit kann uns zum Begreifen der Wirklichkeit nur bis zu einem bestimmten Maß verhelfen…“ schreibt Karel Kosik, und der Künstler zitiert diesen Satz. (Nr.26) Und was folgt daraus? In Bild und Text der „Dinge“ folgen vier berühmte Fragesätze. Sie sind nicht von Kosik, aber er bespricht sie im letzten Kapitel seines Buches, jene berühmten vier Fragen von Kant:

Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?

Und das heißt, es geht bei den Dingen und unserem Verhältnis zu ihnen nicht nur um die Alltäglichkeit, sondern zugleich um Wahrheitsstreben und Freiheitsverlangen.

Möglicherweise kommen uns deshalb die „Dinge“ des Alltags von Heiner Studt nicht knallbunt entgegen wie fast täglich als Postwurfsendung in den diversen Werbeprospekten. (Diese Kataloge sind auch Bilder und Ab-Bilder von Dingen, aber mit welcher Absicht?) Andererseits: Der „Grauwert“ – so der Name einer bekannten Hamburger Fotogalerie – ist bei ihm auch nicht dazu da, schöne und gelungene Schwarzweiß-Fotos zu machen, sondern lediglich die Basis dafür, daß seine weiteren grafischen Eingriffe zu sichtbarer Geltung kommen. Unter diesen Eingriffen scheint das Zerkratzen der Bildfläche wie ein Gründungsakt: Obwohl je verschieden ausgeführt, ist es allen Bildern gemeinsam und für den Betrachter der erste Anstoß, in den Spielraum der Wirklichkeit einzutreten.

Durch diese Eingriffe wird aus dem „Inventar“ – das Wort taucht auf in einem der zitierten Sätze – eine Inventur. Jedoch keine Geschäftsinventur, vielmehr eine Inventur ähnlich der, wie Günter Eich sie durchführt in seinem bekannten Gedicht dieses Namens. Ich zitiere:

Inventur

Dies ist meine Mütze,
Dies ist mein Mantel,
Hier ist mein Rasierzeug,
Im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:

Mein Teller, mein Becher,
Ich hab in das Weißblech
Den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
Kostbaren Nagel,
Den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
Ein Paar wollene Socken
Und einiges, was ich
Niemand verrate.

So dient es als Kissen
Nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
Zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
Lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
Die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
Dies ist meine Zeltbahn,
Dies ist mein Handtuch,
Dies ist mein Zwirn.

Ist es Zufall oder eine Ähnlichkeit der Auffassung: Wie in der ersten Zeile haben wir in der Bildserie eine Mütze und zudem mit dem Text „Krieg ist Geschichte“. Das Gedicht nennt die Situation eines einzelnen am Kriegsende: Was habe ich zur Verfügung, außer daß ich noch lebe? Wir sind versetzt in die „Stunde Null“, wie diese Zeit in der Literaturgeschichte genannt wird. Unsere Situation heute bzw. die des Künstlers ist nicht der Mangel (zumindest nicht derart ausschließlich); und obwohl unser Verhältnis zu den Dingen voller Begehren ist – die Werbung nützt das aus in ihren Bildern/Abbildungen und „verschärft“ es, u.a. durch sexuelle Suggestionen -, geht es in der Bildserie nicht so sehr um mein und dein. Das Verhältnis ist offener gehalten. Dennoch ist es eine Prüfung, eine Inventur: eine Prüfung unser selbst und der „Dinge für uns“. Gehen wir auf sie zu oder von ihnen weg? Mehren sie unsere Möglichkeiten oder mindern sie unsere Freiheit? Aber bitte sehr, prüfen Sie selbst! Und wer will, prüfe sich selbst!