Hartmut Wolf

Rede zur Vernissage von Heiner Studt am 26.10.2008 im „Rialto“, Hamburg

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Gäste !

Haben Sie schon einmal hinter ein politisches System geschaut, sozusagen subkutan auf dessen inneren, konstitutiven  Zusammenhalt, auf dessen stützendes Skelett, so ähnlich wie ein Aktzeichner – nur die Haut sehend – Knochen und Muskeln beim Zeichnen berücksichtigen und kennen muss, und haben Sie bei diesem Beschauen des Systems persönlich bemerkt, dass dessen Muskeln zwar militärisch – martialisch atomar aufgerüstet, der innere Skelettbau jedoch sklerotisch, zerbrechlich, kurz vor dem politischen Kollabieren steht?

Haben Sie schon einmal durch eine elf Kilometer dicke Wasserschicht hindurchgeschaut oder zumindest hindurchgedacht, so wie durch einen trüben Suppentopf, um festzustellen, was sich dort unten bei kräftigem Rühren alles bewegt, was starr bleibt, sich hebt oder senkt, nach Westen oder sonstwohin verdriftet oder sich senkrecht oder schräg nach unten verschiebt oder von unten nach oben hervorquillt ?

Haben Sie schon einmal hinter eine Theorie geschaut wie hinter ein Bühnenstück, das trotz Verzauberung und Dramatik ganz nüchtern und pragmatisch nicht ohne Schnürböden, Schminke und Hühnerhofmentalität des handelnden Personals abläuft und auskommt?

Wer also von Ihnen eine praktizierende „Dahinterblickerin“ oder ein sich ständig bewegender „Hinter die Dinge Schauender“ ist oder sein sollte, der hat heute gut gewählt. Sie befinden sich nämlich beim Einladenden und seiner reizenden Gattin diesbezüglich in bester Gesellschaft.

Soll ich Ihnen Beweise liefern?

Wer von Ihnen kennt einen Menschen, der als blutjunger DDR-Schulabgänger im Frühjahr 1961 den Mauerbau spätestens auf den September dieses Schicksaljahres prognostiziert, sich dann heimlich ein Flugticket aus Westberlin heraus organisiert, dazu passend einen Sommer-Praktikumsplatz in Hamburg sichert und völlig unüberrascht am 13., 14. oder 15. August 1961 beim damals noch üblichen Trampen und beim morgendlichen Café au lait unter dem Eiffelturm aus der Tageszeitung vom beginnenden Mauerbau in seiner Hauptstadt erfährt.

Bedarf es noch eines Beweises?

Siebenundzwanzig Jahre später also im Frühjahr 1988 – man achte auf die Jahreszahl und auf unser aller Ahnungslosigkeit hier im Westen – behauptet der gleiche Mensch in einer lockeren Gesprächsrunde, spätestens im Jahre 2000 gäbe es die DDR, seine alte Heimat, nicht mehr. Die spontane Reaktion der Anwesenden: Verblüffung, Erstaunen, Ungläubigkeit, Widerspruch, Systemhassvermutungen, Einseitigkeitsunterstellungen! Und dann, ein Wettangebot! Stille im Raum! Ein Kasten vom edelsten Champagner wird dagegengehalten! Seelenruhig und seiner Sache ganz sicher, schlägt Onkel Heiner ein. Den Rest der Geschichte kennen Sie selbst, nein, Sie kennen ihn nur zur Hälfte. Auf eins wartet Onkel Heiner nämlich immer noch bis heute, den Kasten Champagner !!!

Wenn wir also heute drucktechnisch umgearbeitete Schwarz-Weiß-Fotos und farbige Internetausdrucke von den Subduktionszonen der Erde und deren beeindruckenden Abbruchkanten genießend betrachten und uns die Stringenz der dazugelieferten Erklärungsversuche überraschen und verblüffen, sollten wir immer bewiesenermaßen mitbedenken, welcher Klarkopf uns das alles erzählt und auf welche Weise er unser scheinbar so sicher geglaubtes Welterklärungs-Skelett und dessen Muskelbewegungen in geradezu bildgewordener Weise ankratzt, befleckt und digital verändert, nämlich als einer, der sich von Jugend an trainiert, ja geradezu herausgefordert hat, deutlich Position zu beziehen, diese zu verteidigen und, falls es dazu kommen sollte, in Form von Wetten auch zu gewinnen. Also Vorsicht mit Widerspruch!

Einer, der so in die Welt, uns herausfordernd, gegenübertritt, hat eine Mitteilung, eine Botschaft im Gepäck, von der Sie später noch hören werden. Unüberhörbarkeit und Umsetzungs-Schnelligkeit wie in seinem professionellen Saxophonspiel ist auch sein Maßstab für den technischen und ästhetischen Herstellungsweg. Ginge das alles mit Aquarellfarben, mit Kohle- oder Bleistift in diesen Formaten und in dieser Ausdifferenziertheit? Wohl eher nicht, es sei denn man säße monatelang an einem Werk. Und das ist nicht Onkel Heiners Sache. Er will so etwas an einem einzigen schweißtreibenden Arbeitstag drucktechnisch hinter sich bringen. Also ist es naheliegend, in der Vorbereitungsphase, die oft viel länger als einen Tag dauern kann, Fotos zu verwenden, diese zu kopieren, sie zu bearbeiten durch Kratzen, Beflecken, Verwischen, Bekleben, Verunreinigen, Versanden, Behaaren, Beritzen und, und, und !!! Oft durchlaufen diese Zwischenergebnisse nach dem Scannen und dem digitalen Aufhellen oder Abdunkeln eine zweite Phase der „Misshandlung“, wie Heiner es selbst nennt, bis dann endlich entsprechend viele Offset-Druckplatten erstellt werden, die nach alter Väter Sitte mit dem Falzbein wie zur Lutherzeit abgerieben und zu Großformaten zusammengefügt werden.

Theoretisch ließen sich mit dieser Technik noch viel größere Formate gestalten. Aber auch in dieser Größe ist der Sog der Bilder enorm. Wir stehen vor gewaltigen Felsformationen und erkennen manchmal nicht, ob es sich um Mikro- oder Makroaufnahmen handelt, wie weit die Entfernungen zu den Felswänden eigentlich sind, z.B. zum gegenüberliegenden Rand des Vesuvkraters ? Und noch während wir nach Vergleichsgrößen wie Bäumen oder Gebautem Ausschau halten, werden wir immer wieder durch die hinzugefügten Kratzer, Flecken und Schwärzungen darauf gestoßen, dass es sich hier um Abbilder von Abbildern von überarbeiteten Abbildern handelt. Aber entscheidender ist fast noch das, was wir nicht sehen, das was der Intendierende gezielt weglässt. Es gibt keinerlei Personal und kaum von Menschen Gemachtes zu sehen. Wer dahinter jedoch einen romantifizierenden Ansatz vermuten wollte, liegt falsch.

Sie werden nachher aus berufenem Munde hören, wie sich die uns vorliegenden Bilder fast zwangsläufig einer kühnen Theorie hinzugesellen. Es sind eben nicht am Wegesrand entstandene, beiläufige Urlaubsbilder, ihre Orte sind gezielt aufgesucht, auch wenn sich daneben Urlaub ergeben sollte. Jeder von uns weiß um die geologische Vergangenheit von Aetna, Stromboli und Vesuv. Aber kaum einer wagt zu denken, diese zehntausend Jahre alten Vulkane könnten am Ende der Eiszeit durch gigantische Flutung eines vielleicht viel tiefer gelegenen, westlichen Binnenmittelmeeres über die Straße von Gibraltar und durch die daraus folgende enorme Duckerhöhung mit einsetzender Erdrissbildung an der Westküste Italiens und Amalfis entstanden sein. Sie stutzen?! Was Sie eben zu diesen „Gestaden Europas“ gehört haben, ist aber nur ein Fliegenklecks, apropos Klecks, zu dem, was Sie gleich noch hören werden. Da wird einer noch viel heftiger an Ihrem Weltbild, am gesamten Skelettbau der Erde, den Sie zu kennen glauben, herumkratzen, und zwar so heftig, dass sich die Kratzer auf seinen Bildern wie zu diesem Programm gehörig noch viel weiter interpretieren ließen.

Wer sich von Jugend in Opposition geübt und trainiert hat, schreibt sich gern das Menetekel an seine Ausgangstür: „Immer, wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit, sich zu besinnen.“

Vielen Dank!