Christoph Ernst

Redebeitrag zur Vernissage von Heiner Studt im „Rialto“, Hamburg 2004

Käfig der Vorstellungen: Anmerkungen zum Umschlagbild von Heiner Studt

Abgedruckt in Christoph Ernst „Im Spiegellabyrinth“, Hallenberger Media Verlag, 2015. Dort wurde das Bild „Tempel 2-A“ im Cover verwendet.

Orte atmen Atmosphäre. Sie spiegeln Gegenwart und Vergangenheit. Manche sind Symbole. Andere geben über Bewusstseinszustände Auskunft. Und wieder andere bezeugen, was unterschlagen, beerdigt und weggelogen werden soll, weil das, was aufbricht, wenn wir den Ort unzensiert für sich sprechen lassen, uns sonst zu erschlagen droht.
Heiner Studt hat einen solchen Ort aufgetan und ihn zum Sprechen gebracht. Lakonisch, direkt, subjektiv und sehr persönlich. Herausgekommen ist das Por-trait einer Wunde. Einer verwirrend schönen Wunde. Als Zeugnis der grandiosen Amputation. Dabei handelt es sich obenhin nur um eine harmlose Ruine. Es ist eher zufällig die Ruine einer Synagoge. Die Geschichte des Baus birgt nicht die landläufige Tragik. Er ist nicht geschändet worden wie hunderte seiner Brüder, wenigstens nicht in der Kristallnacht. Also dürfen wir ihn uns ansehen, ohne so-fort die voll gepferchten Viehwaggons mitdenken zu müssen, die Rampe und den Schotter auf dem Weg zum Krematorium. Oder die braven deutschen Reichsbahner, die sich angeblich nie fragten, wieso keiner von den ungezählten Menschen, die sie in die Millionenstadt südwestlich von Krakau schafften, je die Rückreise antrat.
Aber gerade weil der historisch moralische Imperativ entfällt und der eilfertig be-mühte Reflex artiger Betroffenheit ins Leere läuft, rumoren die Geister umso lau-ter. Bis uns dämmert, dass nichts ist, wie es scheint.

Vor einer Weile berichtete mir ein Freund vom Besuch einer alten Freundin. Sie kam aus Berlin und lebte inzwischen in Tel Aviv. Einmal, während eines Ge-sprächs über Deutsche und Juden, habe sie die Fassung verloren. Ob er nicht sehe, dass alle Deutschen Juden sein wollten?
Er habe sie nicht verstanden.

Das glaube ich ihm. Schließlich ist der Mann nicht ganz freiwillig hier, bloß auf Pinochet-Stipendium. Er stammt aus Chile. Deutschland lernte er erst nach dem Putsch kennen, als er aus dem Schlachthaus weglaufen musste, in das der Ge-neral seine Heimat verwandelt hatte. So landete er in Westberlin. Damals noch zusammen geschrieben. Auf einer ganz anderen Art Friedhof.
Rund ein Vierteljahrhundert danach brüllt die Freundin ihn an. Und er erzählt mir von ihrem Ex-Gatten.
Der sagte, er besäße eine jüdische Mutter. Die habe sich umgebracht, weil sie das Leben im Land der Mörder nicht mehr ertrug. Er, der Sohn, erfuhr erst als Er-wachsener davon, brach mit der Familie, ließ sich beschneiden und konvertierte. Jahre später, nach Hochzeit, zwei Kindern, diversen Ehekrisen und einer fortge-schrittenen Säuferkarriere kommt heraus: Das Judentum der toten Mama ist pure Fiktion, die Tragik ihres Freitods frei erdichtet. Alles bloß ein Vexierbild seiner neurotischen Phantasie, Ausgeburt von Schuldgefühlen, Selbstekel, Suff. Mir nicht ganz unvertraut.
„Und der Vater?“
„Irgendein SA-Funktionär…“

Ungewöhnlich ist eigentlich nur das Extrem der Konversion. Und dass es gleich eine sich selbst mordende Mutter sein musste. Der Rest klingt wenig originell.
Gemeinhin reichen die dezent platzierte Menora und der Querverweis auf die jü-dische Oma, die gern immer dann beschworen wird, sobald es bei heimatkundli-chen Betrachtungen eng wird. Oder um Israel und Palästina geht. Wenn die bes-seren Argumente flöten sind und das Gegenüber meint, rasch ein wenig aufho-len zu müssen. Eine jüdische Großmutter garantiert Polypunkte. Notfalls tut es auch der angeheiratete Onkel. Mit Kontakten zum Widerstand.
„Welchem Widerstand?“
Besser nicht fragen.

Gut sechzig Jahre, nachdem aufrechte und weniger aufrichtige Volksgenossen panisch jede Spur jüdischer Ahnen zu tilgen suchten, steht die vormals verfluchte ‚Versippung‘ bei Nachgeborenen hoch im Kurs. Wo sich keine Mischpoke konstruieren lässt, muss die eigene Brut herhalten. Auf Spielplätzen und Schulbänken wuseln lauter kleine Sarahs, Leas, Davids und Benjamins.
Was steckt dahinter? Mörderische Vergesslichkeit, frivole Postmoderne oder koketter Zeitgeist? Stimmt es? Träumen die Deutschen tatsächlich von der kollektiven Beschneidung? Brauchen sie wirklich mehr als ihre heilige Autobahn, ökologisch einwandfreie Sparspülung, Reformhaus und Alternativurlaub?
Quatsch.
Die meisten erwärmen sich ungefähr so heftig fürs Judentum wie für grönländische Schmetterlinge und halten Mesusas für ein türkisches Gericht. Wieso also sollten sie sich wünschen, Juden zu sein? Obendrein hierzulande, wo die meisten Anschauungsobjekte erfolgreich ausgerottet sind?
Und dennoch. Es gibt eine gewisse Marge Tätererben, die wie besessen von jüdischen Themen ist, trotz fortgeschrittener Taubheit dauernd Klezmer hört, alle Feiertage, Speisevorschriften und Vernichtungslager parat hat, ständig Seminare abklappert und bei keiner wesentlichen Aufarbeitungsinitiative fehlen darf.
Klar, die meisten Tätererben wären leidenschaftlich gern schuldlos. Und manche gern Opfer. Quasi auf der moralischen Gewinnerseite. Und der höchste offizielle Opferadel, der mit Gütesiegel der SS, ist hierzulande nun mal jüdisch. Für viele Deutsche. Denn wer versteht schon noch die eigene Sprache? Also missdeutet man gezielt ‚Juden‘ als ‚Opfer‘. Oder setzt ‚Opfer‘ mit ‚Unschuld‘ gleich.
Semantik hin, Synonyme her. Das bleibt ein elend weites Feld. Nicht nur bei Fontane. Retten wir doch lieber den Genitiv.
Dabei wissen wir verdammt genau, dass es keinen Ausweg gibt. Deshalb wird seit 1945 vom ‚Schlussstrich‘ gefaselt, oder jüngst wieder von der ‚Auschwitz Keule‘, als seien die sechs Millionen Ermordeten eine bösartige Zinswucherfalle, in die arme Nation ahnungslos hinein tappte, als sie ein bisschen spätkolonialen Spaß haben wollte, so wie die Belgier im Kongo oder die Briten in Amritsar.
Deutsch-Südwest gab’s schließlich nicht mehr. Außerdem waren die meisten Hereros eh längst verdurstet.

Worum geht es wirklich?

Warum pflegen die Urenkel weißer Pioniere in Nordamerika Hopi-Rituale, tragen Apache-Schmuck, radebrechen Lakota, wissen alles über ‚Wounded Knee‘ und den ‚Pfad der Tränen‘? Wieso gerät eine Handvoll hellhäutiger Australier in Rage, wenn der ahnungslose Fremde den roten Felsen in der Mitte des Kontinents ‚Ayers Rock‘ nennt, statt Uluru?
Ist das ein zeitgemäßes Substitut mittelalterlicher Büßerrituale, weil das Flagellieren dieser Tage in die Domäne der Dominas fällt? Oder bloß kultureller Kannibalismus?
Und was, wenn der Schmerz echt ist, weil die Seele brüllt?
Welchen Sinn haben gottlose Gebete? Helfen sie einem, wieder menschlich zu werden? Oder ist das nur die Lust auf vertrautes Elend? Gibt es einen Unterschied zwischen der Sehnsucht, das bessere Opfer zu sein, und dem Versuch, das bestialische Erbe anzunehmen?

Vor nicht ganz zwanzig Jahren meinte meine damalige Frau mal beiläufig zu mir, ich benehme mich jüdischer als sie. Es kam amüsiert. Ich war befremdet. Zugleich streifte mich so etwas wie der Anflug von Stolz. Der Stolz, der eifrige Musterschüler erfüllt.
Dabei bin ich sonst nicht sonderlich ehrgeizig.
Es erinnerte mich an das Gefühl, von Fremden auf Reisen mit Dänen oder Holländern verwechselt zu werden. Ein Missverständnis, das ich mir leise geschmeichelt gefallen ließ, bis ich hoffen durfte, mein Gegenüber habe mich als Mensch wahrgenommen. Unabhängig von Herkunft und Historie. Oft rückte ich erst dann mit der garstigen Wahrheit ‚raus. Denn klar, ich schämte mich, ein Deutscher zu sein. Ganz selbstverständlich.
Über die Selbstverständlichkeit dieser Scham machte ich mir erst relativ spät Gedanken. Bei Lichte besehen ist es genau die Sorte Scham, die manche jüdische Großmütter aus dem Hut zaubern lässt, während andere sich an der Reichskriegsflagge festklammern und gewaltsam Nationalstolz beschwören.
Diese Art Stolz und Scham sind Zwillinge, Janusköpfe, Kehrseiten derselben Medaille.

Die wenigsten Deutschen mögen sich. Täten wir es, würden wir anders reden, uns anders kleiden, einrichten, lieber Kinder als Hunde streicheln. Selbstachtung ist keine vaterländische Tugend. War es vermutlich noch nie. Sonst hätte die Masse sich nicht so hemmungslos in Hitler verknallt.
Sage ich mir. Hinterher.
Und: Unser emotionaler Wortschatz ist im Eimer, so verkrüppelt wie unsere Freude an der Schönheit und unser Vertrauen in die eigene Zunge. Doch nicht erst, seit Goebbels‘ Propagandabrei Herzen und Hirne verkleistert hat. Diese Sinne waren schon längst verstümmelt, bevor der ‚Führer‘ das Volk einlud, die Welt zu schänden. Unser Verwechseln von Mut und Härte, Härte und Grausamkeit, Grausamkeit und Liebe, Liebe und Furcht, Furcht und Respekt, Respekt und Unterwürfigkeit ist alte Muttermilch.
Weit älter als das letzte Jahrhundert.
Aber erst durch den Planet Auschwitz, auf dem der europäische Geist im Fegefeuer der Krematoriumsöfen verglühte, der aufgeklärte Wahnsinn über den Irrglauben der Vernunft triumphierte, und mit den Menschen das verbrannte, was viele heute als nationale Identität vermissen, katapultierten wir uns in eine neue Dimension. Eine, wo keine der vorherigen Begrifflichkeiten mehr greift.
Und da ist es verflucht kalt.
Aus der Hölle unserer Sprachlosigkeit scheint den Nachgeborenen die Zeit davor traumhaft kuschelig. Wir sehnen uns dorthin zurück, glorifizieren sie als Epoche relativer Unbeflecktheit, wo noch nicht alles, was uns als Deutsche ausmacht, in den Erschießungsgräben lag. Unter den Ermordeten.

Doch gibt es da wirklich mehr zu betrauern als die Toten? Etwa unsere ‚Kultur‘? Worin bestanden denn die Vorzüge der nostalgisch verklärten ‚Normalität‘, etwa in der wilhelminischen Ära? Außer vielleicht, die Minderwertigkeitskomplexe einer katzbuckelnden Untertanenmentalität ungestraft hinter den Versatzstücken chauvinistischen Größenwahns verstecken zu dürfen?

Wozu die Debatten über mangelnden Patriotismus, weshalb öffentliche Gelöbnisse? Aus Begierde, wieder Uniformstiefel lecken zu dürfen? Diesmal in der ‚light‘ Version, mit demokratisch legitimiertem Aroma? Was zwingt uns, neiderfüllt auf Nachbarländer schielen, wo man vielerorts noch immer besinnungslos Zeit mit Flaggenhissen, Hymnenabsingen und Militärparaden totschlägt? Ist es nicht befreiend, den Fluch des Nationalismus, die elende Ersatzreligion des neunzehnten Jahrhunderts und teuflische Hybris des letzten, endlich dort parken zu dürfen, wo sie hingehört? Auf dem Schrottplatz menschlicher Irrtümer, zu den anderen blutigen Früchten unserer brillanten Erkenntnisfähigkeit?
Was verbirgt sich hinter dem süßen Lockruf der ‚Normalität‘? Diesem Traum vom Abschaffen der Verantwortung als Erlösen von der Schuld – außer gähnender Langeweile?
So entsorgt man Wirklichkeit, mordet die Toten ein zweites Mal, erstickt die ungeborenen Enkel unter den Lügen von Vorgestern.
Klar, das geht. Man kann die Zukunft abschaffen, indem man Erinnerungen auslöscht wie Straßennamen, das Gruselgespenst des Berliner Stadtschlosses in Beton gießt, den Status quo ante simuliert, in eine fade Mischung aus Disneyland und um sich selbst kreisenden Byzanz flieht, wo die Vergangenheit alles beherrscht. Als ewige Gegenwart. Durch monströse Abwesenheit.
Bis die Gegenwart endlich so morsch und verfault ist, dass sie Vergangenheit werden darf. Derlei kann in der Tat tausend Jahre dauern. Bloß mit Leben hat es wenig zu tun.

Interessieren täte mich ein anderer Weg. Doch der geht nur durch Erinnerung. Anstatt und gegen die Amnesie-Rituale öffentlichen Gedenkens. Erinnerung ist die Pforte ins Reich der Phantasie, wo verschüttete Ideen und Gefühle lauern, die darum betteln, dem Vergessen entrissen zu werden, als Chance für Morgen.
Erinnern erfordert Mut zur Zukunft. Das ist nur scheinbar ein Paradox. Doch die Bereitschaft, sich der Vergänglichkeit zu stellen, setzt voraus, ihr zugleich zu trotzen. In Vermessenheit, Demut und dem Vertrauen darauf, dass Lügen sich selbst überführen und Wahrheit heilt, weil sie über den eigenen Tod hinausreicht. Oder dass Hoffnung stärker ist als Schmerz.
Nur so können Ruinen zu Steinbrüchen werden.

Zunächst einmal aber geht es darum, diese Ruinen überhaupt zu sehen. Sie auszugraben, frei zu legen, das Auge auf sie lenken, ihnen den Raum zu geben, wahrgenommen zu werden, so dass ihre Schönheit, ihr Zauber und ihr Schrecken ins Bewusstsein dringen und die Phantasie entzünden kann.
Eben dies tun die Bilder von Heiner Studt. Sie sichern archäologische Spuren, dokumentieren Gegenwart und kommentieren. Politisch und ästhetisch.
Der Anblick der halboffenen Apsis legt weit mehr bloß als den Horror des Krieges und der Vergeltung, er ist ein Einblick, in das was war, wurde und ist, denn die gespenstische Leere, die das Halbrund erfüllt, echot noch immer den Klang der Gebete und das Klatschen genagelter Stiefelsohlen, viel lauer als das Crescendo der Bomberverbände. So wie die Mauer an der Stelle des Allerheiligsten nichts zudeckt, sondern nur den erbärmlichen Triumph der Besiegten offenbart, und ihre verzweifelte Wut, selbst den leblosen Resten noch den Stempel der eigenen Hässlichkeit aufzudrücken.
Die ganze Tragödie und ein halbes Jahrhundert Vergessen, irgendwo auf einem Hinterhof in der Neustadt unter einem winterkahlen Himmel, der als Frühling bloß den Abriss verspricht.
Heimatkunde.
Aufklärung.
Auch Augenweide.
Denn trotz allem ist da Grazie. Form. Die Sinfonie von Licht, Schatten und Farbe, die verspielt über die Reste abplatzenden Stucks plätschert, alte Ziegel aufleuchten lässt, in die Myriaden von Rissen auf dem geborstenen Estrich sickert, Labyrinthe malt, Geister beschwört, die Sinne betört und die Seele zum Tanz einlädt.

Und dann steht das Tor plötzlich sperrangelweit offen. Wir brauchen nur aus dem Käfig hinaus zu treten.
Fragt mich einer, „Was soll das?“, sage ich: „DAS!“