Manfred Ohm

Heiner Studt: Die großen Handdrucke 1990 – 2001

„… denn der Kratzer auf dem Bild, wie jeder andere Eintrag auch, wird auf dem Bild zu einem [wesentlichen] Element des Bildes …“
(Putz, S. 7 Spalte III; Zusatz [ ] von mir).

Alle Entscheidungen und Einträge (Sujet-Auswahl; Ausgang Foto, Fotoausschnitt; Verflachung, Veränderung des Bildraumes durch Kopieren, Verkleinern, Vergrößern, Aufhellen, Dunkelheiten verstärken etc.; Hand-Drucktechnik; Deklarieren des Bildes zum fertigen ‚Kunstwerk‘) führen zu dem, was das fertige Bild, das Kunstwerk in seinem Sosein letztendlich ausmacht. Subjektives, Emotionales spielen immer hinein, man muss das nicht sonderlich betonen oder unnötig aufladen, wie es m.E. Ekkehard Putz (ebd., Spalte II) macht – nur bei der sog. ‚konkreten Kunst‘ mit fast ausgerechnetem/n Bildraum, -elementen sind die subjektiven Entscheidungen bewusst extrem reduziert und für Zufälle bleibt kaum Platz.

Dem (potenziellen) Rezipienten tritt das Kunstwerk als fertig-gestelltes Werk gegenüber. Dieses ist ein ‚Fertiges‘ als Möglichkeit. Und diesem Fertigen, diesem Angebot kann sich der Betrachter öffnen und ihm seine (subjektive und objektive) Bedeutung geben.

Vorzüglich finde ich folgende Arbeiten:

21 (Bitterfeld 2), 29, 30 (Manuela 1.2), 31, 35 (UX 1, 5), 39, 40 (Schädel 4, 5), 53 – 57 (Rolf 1 – 5), 68 – 69 (Rückenlage)

Bei diesen Arbeiten ist es Dir m.E. ausgezeichnet gelungen, dichte, lesbare Bildwelten zu schaffen. Jedes Bildelement (auch Kratzer) ist hier so eingesetzt, dass es eine Form- und inhaltliche Dichte erzeugt; der Bildraum ist von signifikanter Eindeutigkeit. Bezogen auf die Inhaltsseite produziert das auch eine ganz spezielle, neue Annäherung an das Objekt bzw. eine neue Objektaussage (Menschen; Schädel; ausgebeutete, vernutzte  Stadt-Landschaft) oder spannungsgeladene Bildwelten (z.B. UX 1 und 5).

Anders beispielsweise die Bilderserie 42 – 47 (Schädel und Draht) oder das Bild 48 (Stürzend 1): Hier präsentieren sich dem Betrachter, jedenfalls mir, teilweise chaotische, uneindeutige, schlecht lesbare Bildräume und/oder Bildelemente (nicht nur Kratzer, Aufgeklebtes), die im Irgendwo des Bildraumes schwimmen und kaum Botschaften aussenden, so z.B. auch die ‚Kratzer‘ bei 73 (Rückenlage 6) und 60, 61 (Cres 3,4). Was soll Deine Bemerkung zur Serie ‚Schädel und Draht‘*: „Mir kam es darauf an, zu verwirren: Was ist nun fotografierter Draht und was ist geritzte oder gezeichnete Linie?“ – Der Künstler als Such-Bild-Produzierer?

Zu 48 (Stürzend 1): Für mich ein diffuser Bildraum; viel getürmt und wenig gewonnen, um es ‘mal stark zuzuspitzen. – Allerdings kann die Mini-Reproduktion dieses großformatigen Werkes mich zu falschen Schlüssen verleiten.

Zu 18 (Rückblick): Diese Arbeit ist für mich zu illustrativ, ästhetisch zu ärmlich und kommt politisch betrachtet über Sentimentalitäten nicht hinaus (vgl. dagegen Bitterfeld 2).

Zu 75 – 78 (Jena Dominante): Hier haben für mich die gekratzten Schraffuren die Funktion, sich vom Ausgangspunkt (Foto) zu entfernen, um auf die Hybris dieses Turm-Monstrums abzuheben – Assoziationen zum Turmbau von Babel stellen sich nicht von ungefähr ein. Ich sehe in diesem Turmbau mehr die ‚kleinbürgerlich-realsozialistische‘ Variante von (Pseudo-)Urbanität. – Die Warschauer sind ebenfalls gezwungen, mit einem ungeliebten ‚Turm‘ zu leben. Sie reagier(t)en mit dem Witz: Wo ist der schönste Platz von Warschau? Im Kulturpalast! Warum? … Weil man ihn dort nicht sieht!
Übrigens gibt es eine Reihe von Bildern, die ich nicht vorschnell mit dem Prädikat vorzüglich belegen möchte, die ich aber doch recht gut, sprich ausdrucks-inhalts-stark finde. Beispielsweise: 6 (Hinterhof, 9 (High noon), 10 (Der schöne alte Bunker) und 11 (Unter ihnen sind Gossen). Hier, bei den Arbeiten der frühen 90er Jahre, hast Du ja wesentlich stärker als später eine ‚Textur‘ über das Ausgangsfoto gelegt (nur als Feststellung, nicht als Wertung gemeint).
Zu 16 (Das Bild vom Menschen 3): Die Nr. 3 der Serie gefällt mir besonders gut, gerade auch, weil man diesem Bild vom Menschen seine ‚Herkunft‘ auf dem ersten Blick nicht mehr ansieht. Das Fundstück hat seine Metamorphose durchlaufen.

Ob Dir bei den Schwarzwasser-Bildern eine solche ‚Übersetzung‘ gelungen ist, wage ich zu bezweifeln – wahrscheinlich hast Du sie aber gar nicht angestrebt.

* Harten, blanken Draht (Industrieprodukt) mit einem morbiden Schädel (Naturprodukt) zu kontrastieren, hat schon seinen gestalterischen Reiz.

Heiner Studt:
Die großen Handdrucke
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