Dr. Manfred Strecker

Einführung zur Ausstellung Heiner Studt „Von Steinen, Bäumen und Menschen“

Hamburg, Oktober 2019

 

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie in dieser Ausstellung mit Werken von Heiner Studt. Lassen Sie mich zuerst einige wenige Worte zu mir sagen. Ich heiße Manfred Strecker, ich habe in meiner beruflich aktiven Zeit 30 Jahre lang als Kulturredakteur einer westfälischen Tageszeitung gearbeitet, der Neuen Westfälischen in Bielefeld; die letzten Jahre davon als Ressortleiter des Feuilletons – mit den Spezialaufgaben Kunst- und Theaterkritik. Wie ich mit Heiner Studt vor einem halben Jahr in Kontakt gekommen bin, ist hier keiner Mitteilung wert. Auf jeden Fall haben unsere Begegnungen dazu geführt, dass ich die ersten sozusagen offiziellen Worte zu den „Heiner-Studt-Festspielen 77“ sprechen darf.

Wir befinden uns hier in einer Ausstellung mit großen Handdrucken Heiner Studts, der Künstler fasst die Arbeiten unter dem aufzählenden Titel „Von Steinen, Bäumen und Menschen“ zusammen.  Natürlich, dem Raum angemessen, handelt es sich um nur wenige beispielhafte Werke, mit denen Heiner Studt die drei genannten Themengebiete vorstellt. Drei Themengebiete n u r – wenn Sie sich auf seiner Website umtun, werden Sie sehen, dass das Themenspektrum Heiner Studts weitaus umfangreicher ist. Für eine Retrospektive müsste man ein größeres Haus finden. Die kleine Auswahl hier aber genügt der Einsicht: Weniger ist mehr, was Heiner Studt ja auch als Künstler auszeichnet, der die Disziplin des Weglassens in den Korrekturstunden eines seiner Lehrer, Paul Wunderlich, eingeübt hat.

Gehen wir nun auf die Themen näher ein. Steine, Bäume und Menschen interessieren Heiner Studt nicht nur bildnerisch. Sondern, zumindest bei den Steinen, auch wissenschaftlich. Das kann ich allerdings nur streifen, um mich nicht als „blutiger Laie“ zu blamieren. Mit Geologie – daher das Faible für Steine – beschäftigt sich Heiner Studt seit vielen Jahren intensiv. Denn Künstler sollten sich seiner Ansicht nach nicht nur mit Kunst, sonst blieben sie Fachidioten, sondern auch mit anderen Wissenschaften befassen. Studt verkörpert also den pictor doctus, nicht den pictor vulgaris, um ein bisschen Bildungsbürgergut einzustreuen. Insbesondere setzt sich Heiner Studt mit Theorien der Weltentstehung, der Kontinentalformation auseinander, wobei er sich eher an die Sichten von Außenseitern in diesem Wissensgebiet hält. Darüber können Sie Näheres aus berufenem Mund auch auf den Festspielen erfahren, und zwar von Dr. Carl Strutinski aus Saarbrücken in einem Vortrag mit dem Titel: „Vergiss dein Schulwissen – die Erde ist anders“ in einer Woche, wie im Programm nachzulesen. Nun, Künstler als visuelle Artisten suchen visuelle Erfahrung, eine Anschauung der Dinge, mit denen sie sich künstlerisch auseinandersetzen wollen. Sie unternehmen Streifzüge in die Welt, das Skizzenbuch im Rucksack, um Gesehenes, um künstlerische Einfälle festzuhalten, die sie später im Atelier ausarbeiten. Und so tut es Heiner Studt auch. Wobei bei ihm die Kamera Skizzenbuch und Stift ersetzt. Einer dieser Streifzüge, von der Geologie angestachelt, führte ihn auch einmal ins Nördlinger Ries, eine außergewöhnliche Landschaftsformation nordöstlich der Schwäbischen Alb. Das Nördlinger Ries ist ein Hotspot der geologischen Forschung – ich hoffe, ich habe damit den Mund nicht zu voll genommen –, dort hatte sich in entfernten Vorzeiten so etwas wie eine kosmische „Katastrophe“ ereignet. Entweder schlug dort ein mächtiger Bolide ein, oder es hat sich nach einer alternativen Hypothese eine riesige Methangas-Explosion ereignet. Jedenfalls, damals sind Millionen von Kubikmetern an Gestein durch die Gegend geschleudert worden, das sich in einem Ring um den mutmaßlichen Explosionsort herum abgelagert hat, während sich in der Mitte eine runde Ebene, das Ries, erstreckt; diese Ebene überblickt man vom Nördlinger Hauptkirchturm, dem langen Daniel, aus in schönen Rundblicken. In einem Steinbruch und an weiteren Aufschlüssen bei Harburg am Rand des Rieses, wohlgemerkt in Bayern, hat Heiner Studt dann seine Skizzen von ästhetisch beeindruckenden Gesteinsformationen, von Schichtungen, von Verwitterungsgeröll aufgenommen, also Fotografien geschossen, das Ausgangsmaterial späterer künstlerischer Bearbeitung. Darauf gehen die Stein-Grafiken hier in der Ausstellung zurück. Man muss sich allerdings im Klaren darüber sein, dass es für die ästhetische Beurteilung dieser Bilder keineswegs notwendig ist zu wissen, woher sie stammen. Heiner Studts Fotografien der Steine aus Harburg sind keine Dokumente, sie sollen keine geologischen Hypothesen illustrieren, was sie vermutlich auch nicht könnten, sie stellen aber auch keine biografisch-anekdotischen Erinnerungsstücke dar. Und das ist einer der Abstraktionsschritte

in künstlerische Absicht, die Heiner Sudt unternimmt, um der Realitätssuggestion der Fotografie zu entkommen; der Ortskontext spielt keine allzu gewichtige Rolle. Denn, ich möchte jetzt eine griffige Formel benutzen, die eher einem Kalauer gleichkommt: Heiner Studt will nicht abbildern, er möchte bildern. Wobei ich, wohlgemerkt, mit dem Wort „abbilden“ keinesfalls ernsthaft eine Position in der Diskussion über die Ästhetik der Fotografie behaupten will. Also: Heiner Studt will nicht abbilden, er will als Künstler bilden. Und daher spielt das Dort und Damals, das nahezu jede Fotografie zäh begleitet, in seinen Werken keine tragende Rolle – höchstens als Anlass zu einer künstlerisch fruchtbaren Ortsbegehung.

Auch für andere seiner Themen unternimmt Heiner Studt Streifzüge wie die in die Harburger Steinbrüche. Das ist bei seinen Hamburg-Bildern so, die manche von Ihnen kennen mögen, bei denen das „Dort“ und „Damals“ oder ein „Immer noch wie heute“ für den ästhetischen Gehalt ebenfalls keine Rolle spielen, die Ansichten könnten irgendwo in einer Stadt aufgenommen worden sein, wie wir das bei den Baumbildern hier in der Ausstellung ohne Frage annehmen. Nur für Hamburger und Hamburg-Fans ist in dem Fall der Hamburg-Bilder die Ortsangabe oder ein mögliches Wiedererkennen aus sentimentalen Gründen bedeutsam, weil man sich ja vielleicht mit solchen Werken ein Stück der Stadt ins Haus holen will. Es ist der Rezeptionskontext, der Standort des Betrachters, die Zeitlage, bei den Hamburg-Bildern vielleicht auch Heimatseligkeit, die das Dort und Damals plötzlich wiederaufleben lässt. Und das gilt auch für eine andere Werkgruppe, die Heiner Studt im Herbst, wenn ich mich richtig erinnere, in Saarbrücken zeigen will; er hatte kurz nach der

Maueröffnung in Berlin rund um die noch nicht abgeräumten Mauerreste und die noch nicht aufgeräumten Grenzbrachen in Berlin fotografiert. Und jetzt im Angedenken der Ereignisse von vor 30 Jahren werden Heiner Studts Drucke mit einer immensen Erinnerungsbedeutung aufgeladen, und zwar vom gegenwärtigen Rezeptionsbedürfnis her. Das Dort und Damals wird jetzt sogar in zweifacher Weise wichtig, also einerseits: So hatte es damals irgendwie dort an der aufgebrochenen Mauer in Berlin ausgesehen, und andererseits: So hat man sich, so hat sich Heiner Studt damals mit dem Abbild des Dort der Mauer-Überbleibsel künstlerisch auseinandergesetzt. Künstlerisch – das gilt gerade auch für das Skizzenbuch per Fotoapparat – hat Heiner Studt einen ästhetisch geschulten fotografischen Blick, das zeigt sich an der Wahl des Augenblicks, der Lichtstimmung, der Wahl des Aus- und Anschnitts und des Ausdrucks des Objekts zeigt. Er fotografiert auch oft schwarzweiß, wodurch sich – ein weiterer Abstraktionsschritt – das sozusagen natürliche Disegno der Welt, deren innere Zeichnung, deutlich abzeichnet. Die Kronen der unbelaubten Bäume, im richtigen Blick gegen den fahl-bleichen Himmel gesehen, erscheinen so gleichsam als Zeichnungen der Natur.

Aber auch die Porträts, die Heiner Studt vor der Weiterverarbeitung zu Grafiken aus vielen seiner Schüsse in den Porträtsitzungen auswählt, zielen auf eine Charakteristik des Gegenstands, der Person.

Üblicherweise vermeide ich Bildungsgeröll in Ausführungen wie dieser, doch ich möchte hier dennoch ein Zitat anbringen, weil es die Porträtauffassung Heiner Studts gut zu vergegenwärtigen vermag. Georg Simmel, eine der Gründergestalten der deutschen Soziologie, hat sich viel mit Kunst, darunter mit der damals unerhörten Fotografie in ästhetischer Hinsicht befasst. Das Gesicht, so befand Simmel vor mehr als hundert Jahren, werde ,,gleichsam zum geometrischen Ort der inneren Persönlichkeit, soweit sie anschaubar ist“. Nur im Gesicht prägten sich die Erregungen, die für das Individuum typisch sind, als Ausdruck bleibenden Charakters ab, meint Simmel. Und sichtbar machte ein Gesicht in dieser Ausdrucksschicht, seit es erfunden wurde: nur das künstlerische Porträt. Und die Fotografie, ingeniös gehandhabt, vermag das auch. Heiner Studt vermag das auch. Zuweilen greift er noch auf künstlerisches Inventar früherer Porträtkonventionen zurück. Simmel feiert das moderne, autonome Subjekt, das eine selbstgenügsame Wirklichkeit beansprucht, anders als das in ständische Ordnungen eingebundene Individuum früherer Zeiten, das im Porträtbild durch Attribute – wir kennen viele Selbstporträts der Maler mit Pinsel und Palette z.B. – gekennzeichnet wird. Solche Attribute findet man bei Studt gelegentlich; aber es bräuchte es für die Bildwirkung und für den Bildgehalt nicht.

Nun, mit der Erwähnung der fotografischen Skizzenbücher, an die sich dann später die Sichtung der Ausbeute und eine Auswahl derjenigen Schüsse anschließt, die bearbeitungswürdig erscheinen, bin ich erst bei den Vorarbeiten Heiner Studts. Dann hat man, um auf meinen Kalauer zurückzukommen, eine Menge interessanter Abbilder. Und wie steht es jetzt um das Bilden? Hier erhebt sich eine Grundsatzfrage, an der sich die Studtsche Kunst durchgängig herausarbeitet. Es handelt sich dabei um eine fundamentale künstlerische Herausforderung. Jetzt noch einmal ein bisschen Bildungsgeröll. Ein Zeichentheoretiker, der sich viel mit der Ästhetik der Fotografie beschäftigt hat, Roland Barthes, notiert in seinem oft als ketzerisch verstandenen Buch „Die helle Kammer“ Folgendes: „Das photographische Bild ist voll, randvoll; es gibt keinen Platz mehr, nichts lässt sich hinzufügen.“ Also: Das Foto ist fix und fertig. Was nun, fragt sich der Künstler? Wo bleibe ich da? Es gibt mindestens drei, vielleicht auch noch einige Handlungsweisen mehr, mit dieser fast ausweglos erscheinenden Situation des fertigen fotografischen Bildes umzugehen. Man betreibt als Künstler vielleicht Collage oder Montage, wählt Fotografien aus, zerschneidet sie, arrangiert die Schnipsel, möglicherweise unter Verwendung weiterer herkömmlicher künstlerischer Mittel – Zeichnung, Malerei – , um einen komplexen, vieldimensionierten neuen Bildraum zu schaffen, der auf jeden Fall ein künstlerisch erzeugter Bildraum, also kein abgebildeter Raum ist. Oder anders, man fängt damit an, die Fotografien zu übermalen, um sie sich künstlerisch anzueignen, wie es der Österreicher Arnulf Rainer tut. Allerdings, vielleicht haben manche von Ihnen damit Seherfahrungen, ist das Rainersche Projekt eher ikonoklastisch, eine Form der Bildzerstörung. Das mag auch viel mit einem existenziellen Hader Rainers mit der unumgehbaren, aber grausigen Todesgewissheit zu tun haben. Ein Teil dieses Übermalungswerkes, krude und heftig, besteht in Übermalungen von fotografischen Rainer-Porträts. Man vermeint: Kein Bild, kein Rainer-Porträt soll bleiben, das dem Betrachter seine Person im Dort und Damals erscheinen lässt, in der peinlichen Tatsache der hinfälligen Existenz, des Gewesen-Seins.

Aber wegen Arnulf Rainer sind wir ja nicht hier. Eine dritte Umgangsweise mit dem fertigen fotografischen Bild, um es sozusagen zu überwältigen und in die eigene Kunst zu ziehen, ist die von Heiner Studt: nicht bildzerstörend, sondern bilderschaffend. Obwohl das Handwerk, das Heiner Studt dabei betreibt, durchaus aggressiven Charakter hat – vielleicht etwas von schöpferischer Zerstörung besitzt. Er kratzt in die Bildoberfläche ein, er schabt mit Spachtel oder einem Falzbein unter kräftigem Druck darüber hinweg, wirft Sand, Glas- oder Metallsplitter auf das Bild, die er dann kräftig über die Fotografie reibt, um so weitere Spuren zu hinterlassen. Die Absicht ist klar. Schon mit einem ersten, linearen Ritz verwandelt sich das Abbild in ein Bild, verwandelt sich die Fotografie in Grafik. Das fremde Bild wird „mein“, so ähnlich sagt er es selbst. Um „Spuren (seine Spuren) ins Bild zu bringen“, nutzt Studt auch andere Prozeduren, malt mit dem Pinsel hinein, klebt wie bei einer Collage, sparsam allerdings, Schnipsel ein, oder – ebenfalls gelegentlich – montiert Schriftelemente. Bei aller Erfahrung mit diesen Techniken über die Jahre hinweg, mit Sicherheit steuern lassen sich die Ergebnisse nicht, die Heiner Studt erzielt. Es ergeben sich auch zufällige Effekte, die Studt billigend in Kauf nimmt, die er sich sogar herbeiwünscht, selbst wenn es nicht nur als Unbeabsichtigtes, sondern als Fehlerhaftes erscheint: „Ich will ja die Fehler“, sagt Heiner Studt. Trotz solcher Fehler- und Zufallstoleranz, diese Schaffensprozesse werden nicht willkürlich geleitet, sie sind künstlerische Kommunikationsprozesse mit dem Material. Es wäre vielleicht interessant, dem inneren Gespräch zu lauschen, mit dem Heiner Studt sein Handwerk steuert. Man würde da zu hören bekomme: „Ach, hier stimmt etwas nicht, da muss ich noch hineinarbeiten!“ Und man könnte dann der Hand folgen, die den Spachtel führt. „Oder hier, das ist doch eine ganz und gar bedeutunglose Stelle, die muss verschwinden.“ Und schon sucht die Hand auf dem Arbeitstisch nach einigen Schnitzeln Papier, nach Klebstoff oder nach dem Pinsel oder nach der Nadel. Und alsbald entsteht an dieser fragwürdigen Stelle ein neues ästhetisches Ereignis, eine Akzentuierung, die Bedeutungsloses verwandelt. Und so, in diesem auch innerlich halblauten Gespräch, entwickelt sich über den Fotografien eine eigene grafische, zweite Bildebene, die aber den Blick noch frei lässt für die ursprüngliche Bildlage, diese unterstreicht, akzentuiert, oder ihr gar gegenläufig ist. Und wie auch immer man, ein Betrachter, und Heiner Studt selbst das Ergebnis beurteilen mag, jedenfalls gilt – Heiner Studt: „Ist es auch nicht gut, so ist es doch jetzt meins.“

Ich müsste jetzt etwas über die Drucktechnik sagen, denn es handelt sich bei den Bildern nicht um Handzeichnungen, sondern um Grafiken und Künstlerdrucke, um „große Handdrucke“. Zum Glück ist die Zeit so weit fortgeschritten, dass ich mich nicht genötigt sehe, die besondere Drucktechnik, die Heiner Studt entwickelt hat, etwa beschreiben zu wollen. Jeder gute Künstler ist nicht nur ein Handwerker, sondern auch ein Erfinder, also ein pictor et inventor. Ohne Anschauung der handwerklichen Prozesse selbst ist da wenig wirklich zu vermitteln, man müsste das sehen. Auf den „Festspielen“ wird ein Künstlerfilm über Studt und darüber, wie er ans Drucken geht, vor geladener Gesellschaft uraufgeführt, ein Film, der aber sicher dann auch per link Interessierten zugänglich werden wird.

Und nun ein Eingeständnis meinerseits: Ein eleganter, pointierter Ausstieg aus meiner Einführung ist mir leider nicht eingefallen. Deshalb ende ich hier ein bisschen brüsk und abrupt und wünsche Ihnen viel Vergnügen auf den Heiner-Studt-Festspielen 77.