Christoph Ernst

Rede zur Ausstellungseröffnung

Heiner Studt „Fluchtgedanken“, 14.9.2018 im Pop Up Raum, Grindelallee 129, 20146 Hamburg

Heiner hat mich gebeten, etwas über die Menschen hinter den hier ausgestellten Portraits zu sagen. Das ist mir eine Ehre. Die Gezeigten sind allesamt Grenzgänger, einige echte Ketzer, andere tapfere Seelen. Jeden von ihnen bewundere ich auf seine Weise.

Heiner hat ihre Abbilder verfremdet, scheinbar ramponiert, durch Kratzer ihre Oberflächen verletzt und dadurch ihr Wesen erhellt, es auf eine andere Ebene von Realität gehoben, die die Wirklichkeiten hinter den Bildern evoziert.

Beginnen wir mit unserem Ehrengast, dem Ältesten in dieser Runde, extra angereist für den Anlass, Dr. Leo Frankfurt, geboren 1921 auf der Reise von Moskau ins damalige Petrograd. Leo wuchs in einer assimilierten jüdischen Familie auf und wurde in einem kosmopolitischen Umfeld groß. Er lernte schon als Junge Deutsch. Im Sommer 1941 war er als angehender Politkommissar im Osten Polens stationiert.

Schon wenige Tage nach dem deutschen Überfall fiel Leo der Wehrmacht in die Hände. Als Jude und „Politruk“ war er doppelt zum Tode verurteilt, doch er konnte seine Herkunft und seinen Rang verbergen, und so hatte er das unwahrscheinliche Glück, nicht sofort erschossen zu werden.

Bis zur Befreiung in Schleswig-Holstein durch die Engländer führte ihn sein Weg durch unterschiedlichste Arbeitskommandos, Lager, Gestapo-Haft und KZ. Wieder hatte er unerhörtes Glück, denn anders als die meisten seiner Kameraden, mit denen er gelitten und gekämpft hatte, landete er nicht sofort als angeblicher Vaterlandsverräter im Gulag, sondern der Verhöroffizier glaubte ihm seine wahnwitzige Geschichte von Flucht, Widerstand, Verrat und Rettung. Leo kam nach Erfurt und arbeitete dort eine Weile für den sowjetischen Stadtkommandanten. Später wurde er Zahnarzt und Dozent in Leningrad.

Vor drei Jahren lud ihn Bundespräsident Gauck nach Stukenbrock ein, um dort zu sprechen. In Stukenbrock befand sich das Stalag 326, wo 180.000 überwiegend sowjetische Kriegsgefangene untergebracht waren, von denen ein gutes Drittel verhungerte oder anderweitig umkam.

Das hat Leo tief berührt. Sein eigenes Land habe ihn und seine Kameraden bis heute nie geehrt. Deutschland, der ehemalige Feind, habe mit ihm um seine umgekommenen Kameraden getrauert.

So geriet Leo in meinen Fokus: Heiners in Jena (DDR) lebende Eltern hatten Leo in den 70er Jahren bei einem Urlaub in der Sowjetunion kennengelernt, ihn an den in Hamburg lebenden Sohn vermittelt. Und dieser als Mitgründer der Geschichtswerkstatt der Galerie Morgenland wiederum führte ihn Ende der 80er Jahre dort und in andere geschichtsinteressierte Kreise in Hamburg ein.

Kennengelernt habe ich Leo durch meine wunderbare Schwester Gesa. Die dolmetschte Anfang der 90er bei der Begegnung von deutschen und sowjetischen Veteranen, die sich drei Tage im Museum für Hamburgische Geschichte trafen und unter der Überschrift „im Krieg im Lande des Feindes“ über ihre jeweiligen Erlebnisse austauschten.

Es waren drei sehr bewegende, intensive Tage, und ich hätte mir gewünscht, dass mein Vater, der auch Jahrgang 1921 war, daran hätte teilnehmen können. In den Pausen gingen Leo und ich gelegentlich in den Wallanlagen spazieren, später sahen wir uns in der Galerie Morgenland wieder, wohin Heiner ihn eingeladen hatte.

Leo erzählte in der Galerie von seinem Leben und Überleben in zwei Diktaturen. Dieses Format haben Heiner, Gesa und ich dann später mit Leo fortgesetzt und sind gemeinsam in Schulen gegangen.

Eines Tages, als wir an der Elbe spazieren gingen, berichtete mir Leo von David, seinem älteren Bruder, der in Spanien gekämpft hatte und später das eingekesselte Leningrad verteidigen half, wo er knapp einen Monat vor Ende der Belagerung umkam. Doch David besitzt ein Grab. Ich bat Leo, es mir zu zeigen. Heiner schloss sich uns an, und für elf Tage lebten wir in einer drei Männer WG in der Nähe des Newski-Prospekts unweit des Moskauer Bahnhofs. Leo machte uns mit seinen Freunden Alexander und Michael bekannt und wir klapperten die Stätten seiner Jugend ab, sahen uns Kronstadt an und gedachten seines ermordeten Onkels auf den Killing Fields von Lewaschowo.

Es war Juni, die Stadt badete in weißen Nächten und an der Newa turtelten Pärchen.

Seit diesen Tagen verstehe ich, wieso Leo Petersburg so liebt, und ich bin ihm und Heiner für die Reise sehr dankbar.

Unter anderem waren im damals im Gebäude des Rundfunks. So hörte ich zum ersten Mal von Olga Bergholz, der von Stalin verfolgten Schriftstellerin, die während der 900 tägigen Belagerung zur Stimme der Belagerten wurde und den Eingekesselten Mut machte.

Es gibt Helden, die man sich ausdenken muss. Olga Bergholz war eine Heldin, die sich weder Stalin noch Hitler vorstellen konnten.

Auch Karsten Dümmel ist Schriftsteller. Und wie Olga Bergholz lag er mit den Machthabern früh über Kreuz. So sehr, dass er schon als junger Mann drastischen Maßnahmen durch das Ministerium für Staatssicherheit ausgesetzt war.

Mit 16 gründete der Zwickauer unter der Überschrift „Kunst und Kirche“ einen Arbeitskreis, der nach wenigen Monaten vom MfS aufgelöst wurde.

Karsten lernte Elektromonteur. 1980, mit 20, erwarb er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur. Trotzdem wurde ihm zwischen 1980 und 1984 acht Mal ein Studienplatz verwehrt. Daraufhin stellte er den ersten von insgesamt 56 Ausreiseanträgen. Das Regime antwortete mit „verordneter Arbeitsplatzbindung“ und verdonnerte ihn nachts, Züge der Reichsbahn zu reinigen. Zudem verhängte es Kontaktaufnahmesperre, Berlinverbot, Postkontrollen und Stadtarrest – teils kombiniert mit Hausarrest. Diese „Zersetzungsmaßnahmen“ gipfelten in U-Haft zur „Disziplinierung“. Unter „Auflagen“ entlassen, stand er unter ständiger Beobachtung.

Wie das ablief, schildert er eindringlich in seinem beklemmenden Roman „Nachtstaub und Klopfzeichen – die Akte Robert“.

Seine Verbrechen: Ab 1983 leitete er die Arbeitskreise „Literatur“ sowie die „Friedenswerkstatt“ im evangelischen Gemeindezentrum Gera-Lusan. In dieser Zeit lernte er eine Reihe anderer Bürgerrechtler kennen. (Freya Klier, Günther Ullmann, Roland Geipel, Stephan Krawczyk, Utz Rachowski, Mathias Fischer-Herbst und Lutz Rathenow.)

1988 kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

Karsten studierte in Tübingen Rhetorik- und Germanistik. 1996 wurde er promoviert. Heute ist er Mitglied des deutschen Auslands-PEN, des Autorenkreises der Bundesrepublik Deutschland und des Writers-in-Prison-Committees. Von 2014 bis 2018 hatte er mehrere Gastprofessuren an den Universitäten Mostar, Sarajevo Ost /Pale, Bihac und Dzemal Bijedic Mostar.

Seit den späten 1990ern arbeitet er der Erwachsenenbildung und Entwicklungshilfe. Er lebte mehrere Jahre im Senegal, in Mali und Kenia sowie in Frankreich und Bosnien-Herzegowina.

Ich habe Karsten über Manuela und Heiner kennengelernt, die ihn regelmäßig einladen, wenn er in Hamburg ist. Einmal waren wir auch bei ihm mit Leo zu Gast, in der Warburg-Bibliothek.

„Nachtstaub und Klopfzeichen “ ist großartig. „Strohblumenzeit“, sein jüngster Roman, ähnlich bewegend.

Als junger Mann habe ich mich für Autoren interessiert, die nach 1933 aus Deutschland fliehen mussten. Ihre Sprache und ihre Art zu schreiben spiegelten einen Erfahrungsrahmen, der sie von dem anderer unterschied. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Würde ich gefragt, wer für mich ein zeitgenössischer deutscher Exil-Autor ist, dächte ich sofort an Karsten Dümmel. Zwölf Jahre erzwungene innerer Emigration in einer Heimat, die einem am Ende nur feindlich verbunden ist. Danach der Schock einer Fremde, die vorgibt, Heimat zu sein, aber sich selbst keine mehr ist und durch ihre Gleichgültigkeit Lügen straft.

Frieden findet man nur dort, wo man sich im Guten vergessen kann. Mitunter ist es die Fremde, weil die Heimat zu zernarbt ist. Selbst wenn man nie ankommt.

Gunnar Heinsohn ist einer, der auf seine alten Tage an den Ort zurückgekehrt ist, wo er geboren wurde, obwohl der jetzt in einem anderen Land liegt und den Namen gewechselt hat.

Heinsohn kam 1943 in Gotenhafen zur Welt. Heute lebt er in Gdansk.

Gunnar Heinsohn ist das, was heutige Amerikaner einen „Renaissance Man“ nennen, ein umfassend gebildeter Mensch und der mentale Titan dieser Riege.

Das Leben hat es gut mit ihm gemeint: Er durfte sich die Grenzen aussuchen, über die er gehen wollte, es setzte ihm keine, an denen er zerbrechen sollte. Oder es setzte sie ihm so früh, dass er daran wuchs. Auch die Lieblinge der Götter zahlen ihren Preis.

Heinsohns Vater war U-Boot Kommandant. Er starb 1943, bevor der Sohn ihn sehen konnte. Nach Flucht und Odyssee durch Deutschland verbrachte er seine Jugend an verschiedenen Orten und machte schließlich in einem Internat an der Nordsee Abitur.

Ab 1964 studierte er in Berlin an der Freien Universität Jura, Publizistik, Psychologie, Geschichte, Religions- und Wirtschaftswissenschaft, um zehn Jahre später seinen Doktortitel in Soziologie im Empfang zu nehmen.

Von 1973 bis 2009 lehrte er an der Universität Bremen. Zwischendurch verbrachte er längere Zeit in Israel und reiste elf Jahre lang jährlich für längere Zeit nach Toronto, um dort zu schreiben. Er gründete ein Institut für vergleichende Völkermordforschung, das Raphael-Lemkin Institut für Xenophobie und Genozidforschung, und lehrt nach seiner Emeritierung Ökonomie in St. Gallen und Zug sowie Kriegsdemografie an der Berliner Bundesakademie für Sicherheitspolitik und am NATO-Defense-College in Rom. Nebenher schreibt er regelmäßig für die „Achse des Guten“ und den „Schweizer Monat“.

Von seinen rund 900 Veröffentlichungen ist eine ganze Reihe auf den Sachbuch-Bestsellerlisten gelandet. Neben der erwähnten Wirtschaftswissenschaft und Genozidforschung beschäftigt sich Heinsohn mit Vorschulerziehung, Bevölkerungspolitik, Religionswissenschaft, historischer Demographie und Kriegsdemographie.

Mich faszinieren seine geschichtswissenschaftlichen Theorien und seine durchaus plausible Verkürzung des ersten Millenniums auf etwa 350 Jahre, was Karl den Großen zu einem nahen Zeitgenossen römischer Imperatoren und römische Imperatoren zu Zeitgenossen byzantinischer Kaiser macht.

Doch Heinsohns demografische Studien zur Entwicklung von Kriegen sind wichtiger. Sein „Söhne und Weltmacht“ sollte Pflichtlektüre für Politiker sein, schrieb Peter Sloterdijk mal.

Da kann ich ihm nur zustimmen.

Gunnar Heinsohn ist gelegentlich Gast in den Salons von Manuela und Heiner. Ein überaus charmanter, kluger Ketzer, interdisziplinärer Grenzgänger und vermutlich einer der klügsten Köpfe der heutigen deutschen Geisteswissenschaft.

Ein ketzerischer Grenzgänger ist auch Billy Six, der Jüngste in der Runde, ein reisewütiger Reporter, der seinem großen Vorbild Peter Scholl Latour nacheifert und bisher ungefähr 70 Länder besucht hat; ein Jahr in der Ukraine verbrachte, um die Hintergründe des Absturzes des Fluges MH 17 zu recherchieren, Flüchtlinge auf der Balkanroute interviewte, die Kriegsgebiete des Nahen Osten aus eigener Anschauung kennt, monatelang als vermeintlicher Spion in syrischen Gefängnissen saß, bis er auf Vermittlung des russischen Botschafters schließlich freikam, um anschließend sofort die sich entfaltende Migrationswelle aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten.

Billy schreibt, aber arbeitet auch viel mit Video-Blogs. Er finanziert sich über Crowd-Funding und mit regelmäßigen Beiträgen in Zeitungen. Er arbeitet jenseits des journalistischen Mainstreams, wird als „Rechter“ und russischer Agent angefeindet, aber tut eigentlich nur das, was auch Egon Erwin Kisch getan hätte. Er geht vor Ort, sieht sich um und spricht mit den Menschen, wobei er sich nicht scheut, so lange hartnäckig nachzufragen, bis sie ihm echte Antworten geben. Was dabei herauskommt, gibt er wieder.

Damit macht er etwas, was bei Journalisten nicht mehr en vogue ist, die lieber übers Internet „Quellen“ auswerten und Nachrichten zaubern, von denen sie meinen, dass das Publikum sie verkraften kann. Billy komponiert keine Meinungen, er bildet ab, reflektiert das, was er antrifft. Das ist eher die angelsächsische Tradition, keine deutsche, er trennt Nachricht und Kommentar.

Natürlich sind auch Billys Ausschnitte nur Ausschnitte, aber sie sind echt und in ihrer Echtheit für viele viel zu unbequem.

Ich habe sein Buch über die Menschen auf der Balkanroute gelesen, und war nicht nur inhaltlich beeindruckt, sondern auch angenehm überrascht, wie gut er schreiben kann.

Billy ist nicht nur ein Abenteurer, er ist ein scharfer Beobachter und kluger Analyst. Er hat den Mut, unbequeme Dinge zu sagen. Mich ärgert, dass ein Mann wie er, der sich Hintergründe durch Recherche vor Ort, durch Zähigkeit, Biss und echte Neugierde erarbeitet, in diesem Land kaum gelesen und gehört wird, weil er politisch nicht opportun zu sein scheint, obwohl er weit heller und schärfer berichtet als die allermeisten seiner Kollegen.

Denn das kann ich zumindest ein bisschen beurteilen: Vor knapp 40 Jahren habe ich mich in einigen der Gegenden bewegt, aus denen Billy berichtet, und habe immerhin eine leise Ahnung davon, was echt ist und was für Wohlstandsohren geschönt.

Momentan berichtet Billy aus Venezuela. Von dem, was sich dort an der Grenze abspielt. Auch eine Flüchtlingskrise. Aber off the beaten track. Mit scheinbar niedrigem Nachrichtenwert. Erst übermorgen hierzulande wieder Thema. Wenn der Zug längst abgefahren ist.

Lesen Sie Billy mal. Oder klicken Sie seine Berichte auf Youtube an. Es lohnt.

Doch bevor ich zum Schluss komme, hier noch drei Worte zu dem eigentlichen Mann hinter den Bildern, dem, der all diese Menschen festgehalten hat. Heiner, dem Mann der klugen Fluchtgedanken, dem Grenzgänger par excellence, biografisch, geistig, künstlerisch und musikalisch, dem Anstifter zu geistigen Aufbrüchen, Provokateur und sperrigen Denker.

Ich verdanke Dir, lieber Heiner, und Dir, Manuela, nicht nur die Begegnung mit hier portraitierten Menschen, sondern zig inspirierende Anregungen, provozierende Gespräche, geistige Herausforderungen, begnadete Konzerte und beglückende Momente. Herzlichen Dank Euch beiden dafür – und nun viel Freude…